Vermittlung Magazin

Boris Yoffe: Musikalischer Sinn (2012)

Rezension

„Musik ist ein Prozess des Erkennens [und einer spezifisch nonverbalen Bedeutungszuschreibung der fundamentalen Parameter und Strukturen sowie einer Bedeutungszuschreibung des klingenden Materials, ein Prozess, der die Schaffung einer einheitlichen und ganzheitlichen Gestalt zum Ziel hat und damit eine Technik der Realitätserzeugung ist.“](B. Yoffe, S.27)

 

Von „Sinn“ zu sprechen, d.h. vom philosophisch erörterten Sinn und (nicht den Sinneswahrnehmungen) ist ein urmenschliches Bedürfnis nach Erkenntnis. Der Sinn des Lebens, der Sinn des Seins, der göttliche Sinn, aber auch der musikalische Sinn haben Generationen von Philosophen wie Theoretiker motiviert, einmal deutlicher hinter die Kulissen der Musik und ihrer ästhetischen Eigenschaften zu schauen. Ob nun pythagoräisches Paradigma, Eduard Hanslicks Einschreiten, Adornos musikalische Ästhetik oder Schriften zeitgenössischer Philosophen wie Gunnar Hinrichs „Autonomie des Klanges“ (2014) - alle diese Beispiele bemühen sich um Erklärungsmodelle und Konzepte, die dem besseren Verständnis unseres kulturellen Daseins sowie seiner Entfaltung in der Kunstmusik dienen sollen.

Aus dieser „Tradition“ möchte die Sammlung unterschiedlicher Schriften des Komponisten Boris Yoffe (*1968 in St. Petersburg) ausbrechen. In vielfältigen Texten, Essays und zusammengetragenen Notizen aus zahlreichen Briefkorrespondenzen, Gesprächen und Programmtexten, zielt der Inhalt auf mehrere Aspekte des musikalischen Sinns. Yoffe sucht sie vor allem durch seine Grundeinsicht zu vereinen, dass Musik im Kopf stattfindet, d.h. erst die Wahrnehmung aus Tönen Musik macht und damit direkt an die Wahrnehmungswelt des Rezipienten gekoppelt ist. Diese Koppelung - Yoffe nennt sie Semantisierung o. musikalische Semantik - sei zentral für die menschliche Fähigkeit zur ästhetischen Wahrnehmung. Dafür scheint ihm ein „Axiom“ als Startsequenz der Betrachtung - nämlich die „Vorrangigkeit intuitiven subjektiven Wissens vor objektiven Formulierungen“ von essentieller Wichtigkeit. In seinen Schilderungen, Ausführungen und Formulierungen stecken Erfahrungen aus der Praxis als Pädagoge und Komponist von hunderten Streichquartettsätzen, kleinen in sich poetischen Stücken und zusammengetragen zu einem Quartettbuch, das seid 1995 stetig anwächst.

Im Prinzip teilt sich das Buch „Musikalischer Sinn“, das 2012 im wolke Verlag erschien, in vier Abschnitte, deren erster Abschnitt primär von tiefsinnigen, erörternden bzw. theoretisch motivierten sowie philosophisch ambitionierten Themen handelt. Dabei streift Yoffe nicht nur das Feld der Semantik, sondern teilt Überlegungen zum Zitathaften in der Musik, aber auch zur Notenschrift selbst, deren Ambivalenz kulturhistorisch und pragmatisch problematisiert wird. Im zweiten und dritten Teil liegen Werke und manche ihrer Kontroversen im Fokus. Doch neben Klassikern wie Schuberts Erlkönig, Mendelssohns Violinkonzert e-moll oder das Dumki-Trio Dvoráks verarbeitet er auch Themen der jüdischen Tradition und Religion wie Kabala oder Schabbat - natürlich in Bezug auf Musik. Zu guter Letzt schenkt uns Yoffe noch kleinere, kurzgefasste Gedanken zu anderen Werken und einen Text zu Zeitmodellen sowie Fragmente, rasch ausgearbeitete Geistesblitze zu Formen, Gattungen und anderen musikalischen Angelegenheiten.

Beim Lesen von Yoffes Texten empfiehlt sich strategisches Vorgehen. Um die Gedankenwelt Yoffes zu verstehen reicht es nicht, ausgehend vom einleitenden und vermutlich ihm wichtigsten Text über die „musikalische Semantik“, die Texte nacheinander der Lektüre zu unterziehen. Eindrückliches zur Kabala, einer Definition von Kultur, die im Übrigen begrifflich keineswegs einer Neudefinition gleichkommt, sondern Gesichtspunkte menschlicher „Realität“ einbezieht, können auf den Abschnitt der thematisch konsistenten Essays vorbereiten. Besonders am Semantik-Text - „Vorschläge zu einer Theorie“ - zeigt sich dies. Ganz im Stile der philosophischen Tradition Wittgensteins Tractatus fordert Yoffe von seinen Ansichten eine in sich logische, paragraphische Anordnung von Satzungen. Das wird auch an der Wortwahl wie z.B. „Axiom“ oder „Axiomatik“ deutlich. Genau hier bei der Terminologie treten Unstimmigkeiten auf. Essayhafte, metaphorisch aufgeladene und durchaus ansprechende Wortwahl Yoffes kollidieren mit terminologischen Mehrdeutigkeiten sowie unklar definierten philosophischen Grundbegriffen, die das Nachvollziehen der Gedanken Yoffes erschweren können. Dabei fluktuiert das Formulierte zwischen den beiden Polen, konsequenter Methode versus assoziative Herantastung/Erlebnis des Entdeckens. Zwar bekundet Yoffe im Vorwort die persönliche Vorliebe für parteiische, subjektive Essays, dennoch verwirren Begriffe wie „Axiom“ oder „Theorem“, die eindeutig in einer objektivierenden, wissenschaftlichen Lehre von der Logik verortet sind, das intuitive und weitgehend erfreuliche Moment analytischer Progression.

Deutlich mehr Stringenz und Überzeugungskraft durchströmen da die sich anschließenden Texte: Einmal beobachtet Yoffe Filmmusik und ihren Einfluss, wenn sie z.B. absichtlich die Szenerie durch unpassenden Ausdruck und Stil mit einer zusätzlichen Bedeutungsebene versieht, ein anderes Mal reibt er sich an der zentralen Frage westlicher Musik, nämlich die der Einheit (in Werk, Persönlichkeit und Stil). Und über allen Ausführungen steht ein Ideal. Yoffes Ideal der Kunstmusik als etwas, das eine „irrationale“ Komponente der „rationalen“ gegenüberstellt und sie zugleich inkorporiert. Ein nicht fassbarer stofflicher Überbau des Kunstwerks, das in direktem Bezug zu einem Höheren, Göttlichen steht. Diese Tendenz ist in allen Texten Yoffes spürbar. Sie verleien manchen, als analytisch prognostizierten Betrachtungen eine mystifizierende, manchmal pathetisch-theatralische Konnotation, deren Sympathiewerte unabstreitbar, aber manchmal dem Drang nach klaren, nach nicht zwingend erkenntnishaften, aber zumindest Wissen schaffenden oder erklärenden vernebeln.

Grundsätzlich sind Yoffes Analysen verschiedener Werke der Klassik, Romantik und des Barock (sowie singulär erwähnten Stücken der Renaissance) gemessen an der Wirkung auf den Leser eher Interpretationen, deren musiktheoretische Gradation eher gering gehalten wird. Der Drang, etwas Expressives mit der Interpretation zu transportieren, ist aber somit gewährleistet; das überzeugt. Gewisser Nachlässigkeit Yoffes zuzuschreiben ist, dass, positiv motiviert von der Vielfalt des zu Besprechenden, zu viele Themefelder in einem Aufwisch geöffnet werden, deren Fragen (auch wenn sie rhetorische oder reale sind) die Antworten zahlenmäßig überschreiten. Wünschenswert wäre daher, die ein oder andere Frage wegzulassen und stattdessen die Antworten auszubauen. Kommentare über eigene Unzulänglichkeiten und mögliche Fehleinschätzungen bzw. Selbstzweifel relativieren den Wunsch Yoffes nach parteiischem Formulieren und bringen das Vertrauen des Lesers in seine Thesen manchmal zum Wanken. Yoffes ästhetisches Verständnis, Feinfühligkeit im Umgang mit den differenziertesten Ebenen von Musik und  deren inhärenter Schöpferessenz können dennoch das Bild von einem nachdenklichen, nach musikalischem Sinn forschenden Komponisten mit philosophischen Ambitionen abrunden, ungeachtet des eher uninspirierten Coverdesigns des Buches.

 

Constantin Stimmer